Kalifornien
Aus allen Wolken gefallen
Wer nach San Francisco ging,
folgte viele Jahre dem Versprechen auf eine goldene Zukunft.
Aber jetzt entlassen Twitter und
Co. Tausende Menschen.
Sie treffen in der Stadt auf ein
Elend, vor dem sie lange wegsahen. Ein Besuch.
Von Jürgen Schmieder
23. Dezember 2022
San Francisco, Straßenecke
Market/Polk: Oben, im fünften Stock der Firmenzentrale von Twitter bastelt Elon
Musk an dem Spielzeug, das er sich für 44 Milliarden Dollar gegönnt hat, weil
er offenbar daran glaubt, dass er mit Twitter Welt und Menschheit retten wird;
oder zumindest jenen Teil von Welt und Menschheit, für den sich Musk interessiert.
Auf Twitter hat er seine mehr als
100 Millionen Follower gefragt, was das Beste im Leben sei, und ihnen dann
gesagt, dass sie etwas finden mögen, das sie wirklich glücklich mache.
Beginnen wir die Suche nach dem
Glück doch also vielleicht direkt hier; unten auf der Straße, neben der
Einfahrt in die Tiefgarage. Da steht ein junger Mann, Mitte 20; er hält ein
Pappschild hoch mit der Botschaft, dass ihn eine Umarmung von Musk glücklich
machen würde.
Foto: Jürgen Schmieder
Obwohl er bereits seit mehr als
einer Woche hier wartet, wie er sagt, hat das bislang noch nicht geklappt.
Neben ihm sitzt eine Frau, Ende 40 und ganz offenbar obdachlos; sie pinkelt auf
den Gehsteig, während die Leute ihr dabei zuschauen. Luftlinie zwischen einer der
reichsten Personen der Welt und dieser Frau: keine 50 Meter.
Man hat schon oft von diesem
enormen Kontrast zwischen extrem reich und bettelarm in dieser Stadt gehört.
Wenn man aber einmal hierherkommt, um sich anzusehen, wie das so ist, wenn der
reichste Mann der Welt Tausende Leute vor die Tür setzt, weil die seiner
Meinung nach nicht „hardcore“ genug arbeiten wollen, dann muss man sagen: In
Wirklichkeit ist alles noch viel schlimmer.
Die Überschrift eines Essays im
Sommer auf dem Portal The Atlantic: „Wie aus San Francisco eine
gescheiterte Stadt wurde.“ Die Autorin Nellie Bowles beschreibt darin das
Versprechen, das diese Stadt seit dem Goldrausch gegeben und oft auch gehalten
hat: ein besseres Leben, eine bessere Welt. Sie beschreibt auch, wie sich die
Bewohner in ihrer progressiven Selbstgerechtigkeit selbst im Weg stehen, weil
sie nicht einsehen, dass es hin und wieder auch gute konservative Ideen gibt.
Sie beschreibt, wie während des Lockdowns all das Schlechte, das man im Trubel
ums Gutsein und Weltverbessern einfach ignoriert hatte, nicht mehr übersehen
werden konnte: Vor einer 4,8 Millionen Dollar teuren Villa im Stadtteil
Japantown starb ein erst 37 Jahre alter Obdachloser, elf Stunden war er auf dem
Gehsteig gelegen, bis jemand die Polizei rief.
275
000 Millionäre leben in der San Francisco Bay Area
Vielleicht ein paar Zahlen: In
der San Francisco Bay Area, zu der auch das Silicon Valley im Süden gehört,
leben 77 Milliardäre – mehr gibt es in den USA nur in New York. Es leben hier
mehr als 600 Leute, die mehr als 100 Millionen Dollar besitzen. Dazu kommen 275
000 Millionäre. Unfassbarer Reichtum also. Nur: Man muss inzwischen eigentlich
Millionär sein, um sich diese Stadt leisten zu können.
Wer es nicht ist, geht
irgendwann. Wie Matthew Schwartz, 40, und seine fünf Jahre jüngere Frau Kira.
Sie zogen 2016 nach San Francisco; in die Straße, in der Airbnb gegründet
worden ist. Sie arbeitete als IT-Beraterin bei der Analysefirma Gartner, er bei
einer Firma, die nachhaltige Häuser baut. Gemeinsames Jahresgehalt: 300 000
Dollar. „Das ist nicht viel in einer Stadt, in der eine kleine Wohnung 4000
Dollar Miete kostet – plus 300 Dollar für eine Garage, weil in den ersten zwei
Wochen beinahe jeden Tag ins Auto eingebrochen wurde, das wir auf der Straße
geparkt hatten“, sagt er bei einem Treffen in einem Park in Los Angeles, wo er
seit 2020 wohnt: „Natürlich ist man sich bewusst, was da auf der Straße
passiert. Man begegnet anderen Leuten, und die sehen das Gleiche wie man
selbst: Leute, die sich auf dem Gehsteig eine Nadel in den Arm rammen. Die vor
allen Leuten onanieren. Die sich selbst von oben bis unten vollkacken.“
Wer glaubt, dass so was
übertrieben klingt, möge zur UN Plaza im Viertel Tenderloin gehen, fünf
Laufminuten von der Twitter-Zentrale entfernt. Jeder Ort hat einen Geruch, der
einzigartig ist. Die Münchner U-Bahn zum Beispiel: Betonstaub, vergisst man
nie. Smokey Mountain, die Slums von Manila, einer der ärmsten Orte der Welt:
Kohle, Rauch, Schweiß; vergisst man auch nie. Gäbe es einen Geruch für Elend,
wäre es dieser hier an der UN Plaza. Urin, Fäkalien,
Erbrochenes.